Zwischen Innen und Außen

Schloß Reinbek, Ausstellung vom 7. Mai bis 25. Juni 2017
Eröffnungsrede von Dr. Walter Lokau, Bremen

 

Meine Damen & Herren,

es ist ja mitunter in des einzelnen Menschen Leben so, daß, was man eigentlich gar nicht oder zumindest so, wie es sich dann ergab, zunächst nicht wollte, weil man für sich anderes wünschte, sich in Nachhinein als glücklichste Fügung und für das weitere Leben prägendes Glück herausstellt.

So war es auch und in besonderem Maße für Susanne Kallenbach, die, 1957 im bayerischen Örtchen Türkheim, ein Marktflecken zwischen Bodensee und München, geboren, mit einem Praktikum schon als Jugendliche der Töpferei geradezu verfiel. Durchaus übrigens zur Unfreude des Elternhauses, das für die Tochter — der Vater war Anwalt —, gleichfalls das Studium der Jurisprudenz und die anschließende anwaltliche Karriere vorgesehen, ja regelrecht erwartet hatte. Doch wider Dickkopf und Eigensinn war am Ende kein erzieherisches Kraut gewachsen, kein elterliches Mahnen konnte, was nun kam, auf einen im bürgerlichen Sinne vernünftigen Lebensweg zurückbiegen, wenngleich das, was nun kam, der unwiderstehlich zu jenem proteischen, unendlich mit den Händen formbaren Naturstoff Ton Hingezogenen, die nach dem Abitur eine schlichte Töpferlehre im Sinn hatte, zunächst auch gar nicht paßte. Sie bekam nämlich keine, Lehrstelle.

Geschähe solches heute, es nähme einen nicht weiter wunder, gibt es doch kaum noch zünftige Lehrstellen im Töpferhandwerk. Damals aber — wir blicken zurück auf die Jahre zwischen etwa 1975 und 1985, dem Höhepunkt der Keramikbegeisterung in Westdeutschland — damals war das ganz anders. Die damaligen, man muß schon sagen: Zustände erscheinen aus heutiger Sicht fast unwirklich: Es gab Töpfereien und dementsprechende Lehrangebote zuhauf. Es existierte, um Ihnen anekdotisch eine Vorstellung von den Verhältnissen zu geben, für Deutschland ein eigener Töpferatlas, ein Straßenkartenkompendium für Interessierte, Sammler wie für Ausbildungssuchende. Dieser Töpferatlas wurde in vielen Auflagen immer wieder aktualisiert, und man studiert ihn heute mit Staunen ob der irrwitzigen Dichte der farbigen Markierungen, die akkurat Art, Größe und Angebot der Betriebe verzeichneten. Um das Ausmaß des Keramik-Booms vollends deutlich zu machen: Die Aktualisierung dieses Spezialkartenverzeichnisses gab man irgendwann auf, nicht aber weil die Sache den Bach hinabging, nein: weil man des Aufwandes der Einarbeitung der immer und immer noch zunehmenden Zahl an Keramikern und Keramikerinnen einfach nicht mehr Herr wurde. Unvorstellbar …

Warum aber kam unter solchen Bedingungen die junge Keramik-Enthusiastin trotz reichlicher Bemühung nicht zu ihrer gewünschten Lehrstelle? Nun — noch unglaublicher: Mochte es auch Ausbildungsbetriebe zuhauf geben — die Zahl der Bewerber auf Töpferlehrstellen überstieg diese immense Zahl noch um ein Vielfaches. Jeder winzige Ein-Mann- oder oft auch Ein-Frau-Betrieb konnte, ja mußte auf Jahre hinaus lange Wartelisten anlegen. Keramik, Töpferei war für junge Menschen eines der anziehendsten, angesagtesten Metiers überhaupt: Ursprünglichkeit und Kreativität, das Schaffen mit den eigenen Händen, Selbstverwirklichung und inhaltlich wie auch wirtschaftlich selbstbestimmte Unabhängigkeit — all das umgab dieses Handwerk mit einem gewissen Nimbus der Alternativität in einer hochindustrialisierten, durchrationalisierten Gesellschaft — nichts freilich gegen unser Jetzt —, innerhalb derer als Nachwirkung der Protestbewegungen vom Ende der 1960er Jahre in vielerlei Perspektiven nach Wandel Ausschau gehalten wurde. Man bedenke — auch das gehört in jenes Umfeld der Zeit: Gerade damals, 1980 gründete sich die grüne Partei.

Was also blieb nach vielen vergeblichen Bewerbungen unserer vom Tone Betörten übrig, doch noch ihren Herzenswunsch sich zu erfüllen? Nun: Es blieb das, was sie eben eigentlich gar nicht wollte — eine schulische Ausbildung im Bereich Keramik. Neben der damals noch von Innungen regulierten und weitgehend handwerklich ausgerichteten Lehre gab es die keramischen Fachschulen oder auch Fachhochschulen, ja sogar Keramik als universitäres Kunsthochschulstudium — und mit diesen Möglichkeiten, da zumindest, wo einer Prägung fähige Lehrer tätig waren, gab es so etwas wie stilistische Schulen in der deutschen Keramik, ganz analog den Klassen an Kunsthochschulen. Man erkannte an gewissen Formen oder bestimmten Techniken, an Auffassungen, mit dem Ton umzugehen, aus welchem Stall einer oder eine kam. Stilistische Schulen, die einander durchaus nicht immer grün waren, die miteinander konkurrierten, sich, je nach dem, für die Hüter keramischer Werte oder für die keramische Avantgarde hielten.

In den 1960er Jahren waren das vornehmlich die Antipoden Jan Bontjes van Beek an der Hamburger Kunsthochschule mit seinen gestrengen, edel glasierten Gefäßen und in Kassel Walter Popp, der die plastische Qualität von Gefäßmontagen entdeckt und für das Gefäß ganz neue Dimensionen eröffnet hatte — und es gab in Kiel Johannes Gebhardt, der, 1933 geboren, im Verhältnis zu den beiden vorgenannten Lehrern, eigentlich schon einer nächsten Generation angehörte. Gebhardt lehrte seit 1956 an der Muthesius-Werkkunstschule, die mit Anbruch der 1970er zur Fachhochschule mutiert war, heute firmiert sie als Kunsthochschule. Gebhardt hatte schon in der zweiten Hälfte der 1960er den künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten im Bereich der Keramik eine ganz neue Richtung und Freiheit gegeben, indem er, ganz sicher auch gewissen Tendenzen in der damaligen Bildenden Kunst folgend — man denke an die sogenannte Arte Povera oder die hervortretende Materialität in der Malerei — das keramische Material selbst in unglasierten abstrakten Reliefs und Plastiken, später in modellierten Gefäßen mit wie natürlich erscheinenden Strukturen zum Sprechen brachte, ihm gewissermaßen Eigenleben zubilligte, ja solches geradezu herausforderte. Neu war dies gerade als Gegensatz zur bisherigen großen Tendenz der deutschen Nachkriegskeramik aus einer handwerklichen Tradition heraus formale und technische Perfektion zu bevorzugen, das Material und die eingesetzten Techniken möglichst vollendet zu beherrschen und eben nicht selbst als Eigenwert hervortreten zu lassen. Das perfekt gedrehte und makellos glasierte Gefäß galt über Jahrzehnte, und vielen ja auch weiterhin, als Ideal des Metiers. Aller von ihm neu entdeckten und seinen Studenten mitgegebenen Freiheit zum Trotz war Gebhardt bis zum Ende seiner Lehrtätigkeit 1994 ein gestrenger Lehrer, als Schüler des von Bauhaustraditionen beeinflußten Gefäßkeramikers Hubert Griemert, selbst aus der handwerklich-funktionalen Tradition kommend: Er verpflichtete zwar auf keinen thematischen oder künstlerischen Kanon, aber wer bei ihm studierte, mußte sich in den ersten Semestern unweigerlich mit den handwerklich-technischen Grundlagen des Metiers beschäftigen. Der Erfolg als Lehrer gab ihm Recht, sprach man doch von der „Kieler Schule“ in der deutschen Keramik, eine Richtung, die Individualitäten hervorbrachte, die alle — so unverwechselbar ihre personalen Arbeiten, Gefäße wie Plastiken, auch sein mögen — auf die unmittelbare Kraft und sinnliche Eigenheit, auf das offene Ereignis des keramischen Materials selbst setzen. Freiheit jenseits eines Kanons, künstlerische Aussage und eigene Handschrift in der Keramik erwuchsen für Gebhardt nur auf Grundlage akkurater Kenntnis der handwerklich-technischen Möglichkeiten: Nur wer weiß, was er mit dem Material beim Drehen, Modellieren und im anschließenden Brand machen kann, erhält gültige Ergebnisse und kann Grenzen ausdehnen, vermag neue, über das bloß Handwerkliche hinausreichende künstlerische Qualitäten zu entwickeln. In der Keramik muß man können, was man machen will — hier nichts zu können, heißt auch, keine oder doch kaum Möglichkeiten zu haben. Keramik verzeiht keine handwerklichen Fehler oder technischen Schlampigkeiten, die am Ende immer mit Scheitern bezahlt werden. Hier ist nichts durch vermeintliche Genialität zu kaschieren — mit dem Öffnen des Ofens nach dem endgültigen Brand schlägt immer auch die Stunde der Wahrheit … Wie überhaupt in der Moderne steht dem Verlust an Verbindlichkeiten, an Gewiß- und Sicherheiten der Gewinn an Freiheit, eine abenteuerliche Offenheit gegenüber. Die zeitgenössische Keramik bietet heute mit ihrem Werkstoff Erde, Proteus unter allen Materialien, künstlerische Möglichkeiten wie keine andere Sparte sonst. Doch solche Möglichkeiten muß man zu nutzen wissen, um mit eigener Sprache in diesem Material zu schreiben, eine eigene Handschrift auszubilden, ein Spezialist mit eigenem Idiom zu werden, um sich zu unterscheiden von anderen und zudem von Arbeit zu Arbeit einen Unterschied auszumachen, neue, nie gebildete Wörter zu formen, Unikate.

Man muß das im Auge behalten, um zu verstehen, warum für Susanne Kallenbach das, was sie eigentlich nicht wollte — die fachhochschulische Keramikausbildung in Kiel — ein Glücksfall war und die Prägung durch den Lehrer Johannes Gebhardt unverzichtbare Grundlage ihrer weiteren Arbeit wurde. Alles, was ihr Œuvre ausmacht, erwuchs auf dieser Ausbildung und ist ohne diese nicht denkbar. Dabei hatte ihre Entscheidung für Kiel unkeramische Gründe: Maximale Entfernung zu ihrer bayerischen Heimat trieb sie in den hohen Norden, wo sie — nach dem von 1978 bis 1986 absolvierten Studium an der FH für Gestaltung in Kiel — denn auch geblieben ist — heute, seit 2007 im Atelier in Ranzel zwischen Rendsburg und Kiel.

Die Keramikerin, die sowohl im Bereich des keramischen Gefäßes wie auch plastisch arbeitet — wir sind mit dieser Ausstellung konzentriert auf das Gefäß — , vermittelt mit ihren Werken ein unverkennbares, spezifisches Gefühl für das keramische Material, für die unerhörten Möglichkeiten von quasi-natürlichen Strukturen und Texturen der Oberflächen, die rauh oft, mitunter grob sogar wie Verletzungen erscheinen, tatsächlich aber stets aus dem herausgeforderten Eigenleben des Materials selbst resultieren, und von einer Delikatesse sind, die vom Betrachter und Betaster eine besondere optische und haptische Sensibilität erfordert. Susanne Kallenbachs Arbeiten leben aus dieser eigentümlichen Empfindsamkeit, die sich ästhetisch in vielfachen Spannungen, ja Widersprüchen kundtut, ohne darum den Sinn für Harmonie preiszugeben. Da stehen dünnwandigste, weit geöffnete, hellklingende, mitunter staunenswert großformatige Steinzeug-Schalen auf minimalem Stand oder leicht konische, stämmige Zylinder-Gefäße, oft in Gruppen wie Individuen einer Gattung, alle wie weich noch schwingend, mit jenem typischen, leicht unregelmäßigen, aber extrem scharfen Rand, der das monochrom-samtig glasierte Innere wie eine Schneide von den fühlbar geritzten, in Lagen geschichteten, aufgebrochenen, vielsichtig umlaufenden Landschaften, Topographien, Geologien, Rinden, Borken der Außenwand trennt — Strukturen, nebenbei, die an keiner Stelle mit Dekor zu verwechseln sind. Das Gefäß gewinnt, ohne doch sein Wesen als Behältnis zu verlieren, eine nirgend mehr an Funktionalität orientierte Autonomie, wird zu einer keramischen Haut, die Innen und Außen in ihrem Charakter scheidet in Schutz und Geschütztes, Versehrtes und Unversehrtes und die Unterschiedenen zugleich verbindet, gewissermaßen den Unterschied selbst ausmacht. Mehr noch: Die Gefäße werden zu Bild-Trägern ihres eigenen Gewordenseins, so daß am Ende ihr Angesicht, wie alt geworden zu einer materialen Singularität erstarrt, gar nicht mehr von einem Grund ablösbar erscheint — Sinnbild von gelebtem Leben, von Vergänglichkeit zuletzt.

Solche Arbeiten werden nie gedreht, was dem Material eine gänzlich andere innere Struktur verliehe, sondern massiv gebaut wie Plastiken, um anschließend wie Skulpturen bearbeitet zu werden, abgetragen, geritzt, gekämmt, mit farbigen Engoben bemalt und Porzellan belegt, mit Aschen eingerieben und wieder freigewischt. Dabei geht die Künstlerin nicht, wie es vielleicht den Anschein hat, gänzlich informell-spontan vor, oft liegen den entstehenden umlaufenden Materialbildern Skizzen und Vorzeichnungen zugrunde, die freilich in der Übertragung ins andere Medium Andersheit gewinnen. Tatsächlich hat sie dabei oft Themen, Stimmungen, auch sehr konkrete Erinnerungen im Sinn, die anschließend in Gruppentiteln übersetzt, wiederkehren, in ihrer Idiomatik aber kaum je offen zutage treten oder eindeutig ablesbar wären. Der entscheidende Schritt im Arbeitsprozeß erfolgt nun: Susanne Kallenbach dehnt den außen vielfach informell gezeichneten, mit gedeckt farbigen Engoben bemalten oder Porzellanauflagen, Aschen, organischen und anorganischen Substanzen belegten weichen Ton feinfühlig und vorsichtigst zu Gebilden von dünnsten Wandungen. In dieser Weitung gewinnen die tönernen Hüllen zum einen ihre weich-bewegte Form, zugleich aber wölbt sich in diesem Vorgang die vielfach bearbeitete Außenhaut gleichsam wie eine ungeregelte, nicht wieder auf ein Ur-Bild rückführbare Anamorphose zum einmaligen Rundbild einer kleinen geo-geschichtlichen Planetenoberfläche, einer Landschaft mit eigener Atmosphäre. So stehen Susanne Kallenbachs Gefäß-Objekte gleich nahe dem Genre der Plastik, der Skulptur wie der Malerei und sind zugleich einfach Gefäße. Vielfache Gegensätze in sich einend sind sie so künstlich wie sie natürlich erscheinen, sind gleichermaßen expressiv wie introvertiert, verletzt und verheilt zugleich, konzis gekonnter künstlerischer Ausdruck und bloß von sich kündendes Material ineins, von berückender Schönheit dabei, die immanenten Kontraste paradoxer- und wunderbarerweise belassend und versöhnend.

So ist das Leben — was geschehen ist, ist geschehen, hat Spuren hinterlassen, die man wie ein Palimpsest weiterbearbeiten kann und muß. Was geschieht, ist dabei oft so nicht gewollt, entbindet aber Möglichkeiten, die im Fortgang sich als Glück oder Unglück erweisen — das müssen wir annehmen. Glauben wir nicht, wie uns der Zeitgeist suggerieren will, daß Leben programmierbar sei … Diese riskante, so unvermeidliche wie ein für alle Mal zeichnende Freiheit, die wir Leben nennen, das ist es, was die Gefäße Susanne Kallenbachs vermitteln.