Dem Nichts eine Hülle geben

Einführung zur Ausstellung im Museum Kellinghusen am 13. Mai 2007 
von Jens Martin Neumann, Kunsthistoriker zu Kiel

 

Im besten Falle kann sich Keramik – egal ob Gefäß oder freie plastische Arbeit – wie in dieser eindrucksvollen Ausstellung heute vollständig in die Sphäre des Künstlerischen öffnen. In der Überbewertung der materiellen Voraussetzungen von Keramik liegt ja ein weit verbreitetes Missverständnis, denn weder die festgelegte Funktionalität eines keramischen Objekts noch die virtuose Beherrschung des Handwerks können fehlende künstlerische Imagination, lückenhafte Gestaltidee und dürftige Formfindung ersetzen. Obwohl die letzte grundsätzliche Diskussion um den Kunstcharakter von Keramik noch aussteht, hat sich dieser im Werk von Susanne Kallenbach bereits nachdrücklich materialisiert. Denn das Gefäß ist für sie Anlass und Ausgangspunkt einer komplexen künstlerischen Untersuchung ihres Grundmaterials des Tons. Viel entscheidender als der faktische Gebrauch ist bei ihrer Gefäßkeramik deshalb die ästhetische und symbolische Nutzung, oder drastischer: Ein eingestellter Blumenstrauß macht eine Kallenbachsche Vase nicht schöner, vielmehr erweitert ihre organische Tongenese das florale Wachstum zu einer bildmächtigen Formel. Über Kunst entscheidet heute Konzept, Prägnanz und vor allem die Aura des Werks, nicht ihr Einsatz.

Susanne Kallenbach hat über die Jahre eine höchst individuelle, dabei ausgesprochen eigenwillige Gefäßkeramik entwickelt, in deren Mittelpunkt einfache archaische Grundformen und raue, brüchige, damit naturhafte Oberflächen stehen. Bestimmend wirken die ruhigen, in sich aber mehrfach elegant bewegten Körper der Vasen, Schalen, Becher und Kummen, ihre fein geglätteten Innenräume, die zerklüftete, erdnah krustige Oberfläche, die graphische Zeichnung und malerische Textur des Tonmantels sowie eine charakteristische, überwiegend blaugraue Farbpalette, im Ganzen die weit getriebene Abstraktion der keramisch bildnerischen Mittel. In dieser formalen objekthaften Konzentration, der lapidaren Prägnanz der gestischen Strukturen und der geistreichen Verschränkung von ganz gegensätzlichen Gefäßerfahrungen offenbart sich eine außergewöhnliche, kalkulierte Mächtigkeit des skulpturalen Entwurfs, der mit großer Sicherheit Volumen und Fläche strukturiert und in vitaler Spannung hält.

Susanne Kallenbachs keramische Kunst ist eine Kunst sensibel balancierter Gegensätze, spannungsvoller Kontraste von Ruhe und Bewegung, Strenge und Lebendigkeit, Masse und Leichtigkeit. Bereits das Leitthema des Aufbaus ist der Ausgleich von disziplinierter, also statuarischer Grundgestalt und natürlichem, dynamischen Formenwachstum: So etwa bei den hohen schlanken Vasen die zerbrechliche Balance von ruhigem vertikalem Stehen und fragilem Kippen, organischem Schwellen, bauchigem Wölben und zartem Weiten ihrer Zylinder – eine ins Bild gesetzte Labilität der Großform, die die angelegte Gefäßstatik optisch gleich wieder leugnet. Resultat solcher zeichenhaften, dabei künstlerisch geklärten Naturbezüge sind die noblen Kallenbachschen Gefäßsilhouetten. Dieses Thema von „strenger Norm in individueller Erscheinung“, so die Formulierung der Künstlerin, wird in der gesuchten Distanz der klar stereometrischen, immer der idealen Kreisfigur verpflichteten, also artifiziellen Volumen und den spontan durchschluchteten, eben naturnahen Oberflächen weiter entwickelt, ebenso im Wechsel glasierter Innenwandung und poröser Außenerscheinung. Dabei reflektiert sie das genuin keramische, bei ihr bildhauerisch verstandene Formprinzip des Hohlraums, das hier durch die intendierte Dünnwandigkeit aufgeschärft ist: Auch größere Gefäße sind zu hauchdünnem Scherben gedehnt, von der reinen Leere im Inneren – dem „Nichts“ des Ausstellungstitels – trennt das Betrachterauge als „Hülle“ nur ein schmaler Tonschleier, der das definierte Volumen gleich wieder verflüchtigt, eine geradezu schmächtige Grenzlinie, auf die dann erneut kontrastierend die schwere Wucht der groben Strukturen trifft.

Susanne Kallenbach reflektiert in ihren Arbeiten auf vielfältige Weise die Grundbedingungen von Keramik, also die Mittel, die einem Gefäß wesentlich sind und die zu jeglichem plastischen Objekt führen. Nun ist das Material hier schon Bedeutungsträger – im Ton liegt bereits die Botschaft, so dass man ihre Scherben jenseits traditioneller Funktionswidmung direkt aus der immanenten Realität des Kunstwerks, eben aus Grundstoff, Textur und farbiger Erscheinung begreifen muss. Die Künstlerin ist primär an formalen, an bildhauerischen Fragen interessiert: an der Definition und Tektonik von Körpern. Sie untersucht Grenzen, Achsen und Verdichtung des Raums, das Verhältnis von Innen und Außen, von Volumen und Oberfläche sowie immer auch deren atmosphärische Werte: Ansichten, Einblicke, das „Dazwischen“, das Spiel mit Licht und Schatten.

In unbedingt präziser Form- und Materialanalytik führt Susanne Kallenbach deshalb die Untersuchung ihres Grundstoffs als Ziel gerichtete Aktion von Formen, Ritzen, Dehnen und Brennen vor. Ihr langfristiges Thema ist die Auslotung der Eigenstruktur des Tons, darauf zielt ihre besondere Arbeitsmethode – dieses tiefe Hineingehen in das Material –, bei der eine mit geritzten Strukturen versehene, massive Tonmasse gedehnt und von Innen ausgehöhlt, gleichsam geleert wird. Unter der Spannung der Dehnung reißt der Ton, angelegte Formen brechen auf und der Ton gibt seine ihm ureigenen Strukturen frei. Der Vorgang kann durch aufgepresste Porzellansplitter noch intensiviert werden, die dem Ton Flüssigkeit entziehen, so dass er an diesen Stellen noch breiter aufklafft. Ihre Arbeitsweise wird damit einerseits von einem respektvollen Umgang mit dem Material und tiefem Vertrauen in seine ästhetischen Qualitäten geprägt, andererseits von sicherem Wissen um die ihm gemäßen Mittel, die hier ganz selbstverständlich auch grafische und malerische Techniken umfassen.

Denn Susanne Kallenbach ist als Keramikerin durch und durch Künstlerin, ihr Steinzeug wird getragen von den Grundwerten zeitgenössischer keramischer Gestaltung: dem sicheren Gespür für den Eigenwert des Tons, der verknappten Gestalt, der atmenden Strukturfläche und intensiven Engoben-Farbigkeit, es erweitert diese aktuelle keramische Verortung aber darüber hinaus um grafische und malerische Dimensionen dieses Urstoffs. Besonders ihre Tonwandungen zeugen von einer wirklich existenziellen Aneignung und intensiven bildnerischen Entfaltung des Materials, deren sichtbar überlieferte, buchstäblich eingebrannte Spuren die fast schmerzliche Schönheit der Keramikgefäße ausmachen. Sie sind in rohe rindenartige Formation gebracht, wirken brüchig, ädrig und verwittert, werden von fleckigen Balken und breiten Farbflächen durchzogen, tragen fließende Farbläufe oder züngelnde Liniengeflechte, weisen breite Kerben, tiefe Spalten, plastische Schollen und aufgeworfene Grate auf, sind geschlitzt, durchschnitten und morbid gerissen, zeigen gewissermaßen eine manuell entfremdete geologische Topographie. Die Künstlerin zeichnet mit vehementem Strich im Ton, kämmt Schraffuren und Liniennetze auf, reibt Oxide in Vertiefungen ein, wischt sie gleich einer Radierung aus und trägt die Farbe mit dem Pinsel in kraftvollem Malgestus auf. Der Ton stilisiert nicht allein zur Skulptur, sondern ebenso zu Bildträger, Druckplatte und Malgrund, und damit entstehen auf den Keramiken schlicht Bilder, sind ihre Objekte Bilder.

Denn die formale Setzung organisch bis vegetabiler Gefäßformen und die im Aufbrechen angezeigte gefährdete Zerbrechlichkeit des Tonobjekts erschließen ganz assoziativ auch inhaltliche Dimensionen. Hier ist Zeitlichkeit an jeder archaischen Verletzung der Oberflächen erlebbar, in den Spalten und Ritzen sitzt gewissermaßen Vergänglichkeit, aus knochigen, knotigen, biegenden Formverläufen spricht Gewachsensein. Die Keramiken liefern stets ihre Lebensspuren mit, erzählen von ihrer Geburt und Existenz. Die Analogien aber reichen tiefer, denn ganz unmittelbar gerinnt natürliches Wachstum zu einem künstlerischen Prinzip: Die borkigen Oberflächen ähneln nicht nur der Rinde eines Baumes, sondern sie entstehen im Dehnen letztlich genauso. Susanne Kallenbach setzt nicht allein einen biologischen Wachstumsprozess ins Bild, sondern sie findet dafür eine Strukturmetapher: Baum als symbolische und als genauso gewachsene Form. Und deshalb müssen die Spuren der Bearbeitung notwendigerweise sichtbar erhalten bleiben, als ablesbare Ambivalenz zwischen Künstlichkeit und Naturhaftigkeit, deshalb müssen Werkprozess und Bildfindung eine untrennbare Einheit bilden, Form und Bedeutung im Sinne eines geläuterten Primitivismus identisch sein. Und dann erst lässt sich folgerichtig über strengem Rechteckraster ein „Vasenwald“ aufbauen, der so genannte Sibirische Spaziergang. Somit wird in der Kallenbachschen Abstraktion ohne abzubilden Naturhaftes und Menschliches erfahrbar, stilisiert keramische Kunst zum eindringlichen Bild von Wachsen und Vergehen, zum Substrat von Erinnerung.